Es ist furchtbar. Seit Jahren wartet die Literaturkritik auf den einen DDR-Roman. Ein Buch soll das sein, das alles erklärt, auf höchstem literarischen Niveau selbstverständlich; Dichtung und Wahrheit, Wirklichkeit und Spinnerei, alles deutlich erkennbar und doch überraschend. Es ist, als erzählten sich die Kritiker selbst einen Witz – um dann verstört zu sein, weil sie die Pointe schon kennen (oder sie nicht verstehen).
Mit derlei Ungemach muss sich nun Uwe Kolbe herumschlagen. Sein Romandebüt „Die Lüge“ findet nicht die Aufnahme in den Feuilletons, die das Buch verdient. So ist der Autor zu Beginn seiner Lesung auf Klarstellung bedacht. „Wenn wir anfangen zu erzählen, beginnen wir zu lügen“, stellt er den ersten Textpassagen voran. Das soll doch wohl heißen: ein Schlüsselroman ist das nicht.
Was ist es dann? Einen starken Hinweis geben die Zeilen, die Uwe Kolbe an das Ende, ganz korrekt: dahinter, stellt: „Der Autor dankt der Person, die die Fertigstellung dieses Buches erzwungen hat, weil sie anderes von ihm erwartet.“ Gemeint ist wohl der Vater, der Stasi-Mann. Damit wird auch die Parallele deutlich, zu dem, was auf den Seiten zuvor passiert. Dort sind die Geschichten von Vater und Sohn zu lesen. Beim Geheimdienst der eine, der andere als Komponist eher im Widerspruch zum Staat unterwegs. Zwei Erzählstränge, die sich schließlich zu einem monströsen Ende vereinigen. Das kann doch nicht wahr sein. Das, was Uwe Kolbe „phantasmagorisch“ nennt, bizarr also, das muss und das kann nicht allen Lesern gefallen.
Uwe Kolbe ist ein angesehener Lyriker, die Kritik akzeptiert ihn als Dichter von Rang. Sie legt diesen Maßstab auch an den Schriftsteller an, der das, vielleicht ein wenig kokett, nicht leiden mag. Aber gerade die Liebe zum Wort macht seine Sprache aus. Es gibt schlimmere Vorwürfe an einen Romancier als der, ein Dichter zu sein. Die Wortverliebtheit, der Sinn für das Detail machen den spröden Text zum Vergnügen, der – so Uwe Kolbe selbst – keinem Plot folgt.
Der Gang der Dinge springt hin und her, manches wird nicht zu Ende erzählt. Bei den Frauenfiguren fällt das besonders auf. Sie kommen und gehen, es gelingt nicht immer, sie auseinanderzuhalten. Hier wäre mehr wirklich mehr. Mag sein, dass der Autor seinen Geistesblitzen zu sehr nachgibt. Auch bei der Lesung schweift er bei der Einleitung zur nächsten Passage herrlich aus. Plötzlich erzählt er von Ottmar Gerster, einem von gut 1000 Künstlern, die Goebbels und Hitler 1944 auf ihre Gottbegnadeten-Liste setzten – und dem in der DDR trotzdem eine steile Karriere gelingt. Nur eine Fußnote ist das für sein Buch, bremst sich der Autor selbst wieder ein.
Überhaupt: diese DDR. Uwe Kolbe vermeidet das „Drei-Buchstaben-Land“ konsequent. Er schreibt nur von der Gegend, deren Namen doch jeder kennt. Wozu also dieses Vexierspiel? Warum nennt der Autor einige Dinge und Personen beim Namen, andere nicht? Sein Erklärungsversuch, der zwischen Lebenden und Toten unterscheidet, wäre überzeugend, fände er stetige Anwendung; doch diese Regel hat (zu viele?) Ausnahmen. Warum macht er aus Dichtern Komponisten, aus Weiss Schwarz?
Weil irgendwo die Wahrheit aufhört, und die Dichtung beginnt. Weil es nicht anders gehen kann. Ganz zu Beginn seiner Lesung nennt Uwe Kolbe den Buchtitel anmaßend. Will heißen, wer die Lüge kennt, weiß um die Wahrheit. Der Autor ist sich seiner Wahrheit nicht sicher. Natürlich hat er Antworten, aber eben auch viele offene Fragen. Andere Menschen, Zeitgenossen vielleicht, haben die ihren, beharren auf ihrer Version der Geschichte. Uwe Kolbe indes schreibt Geschichten.
Am Ende seiner Rezension notiert Christoph Schröder auf Zeit-Online: „Kolbes Roman hat bislang eher verhaltene bis aggressive Reaktionen ausgelöst. Es ist, wie gesagt, ein Buch, auf das man lange gewartet hat – und das möglicherweise noch immer zu früh kommt.“ Möglicherweise, wenn man die falschen Erwartungen hat.
Welche das sein könnten, zeigt ein Blick auf die Schlagwörter, die helfen sollen, den Text im Internet schneller zu finden: Stasi, DDR, Roman, Ost-Berlin. Mehr nicht.