Freie Bildung und öffentlich zugängliche Bibliotheken sind ein hohes und aus dem gesellschaftlichen Alltag nicht wegzudenkendes Allgemeingut und eine heute in Deutschland selbstverständliche Errungenschaft. Das war nicht immer so. Im ausgehenden Mittelalter hatten große Teile der Gesellschaft nur bedingt einen Zugriff auf Bildung. Bibliotheken als Wissensspeicher standen nur einem sehr kleinen Benutzerkreis offen. Auch wenn der Rahmen, der ausschließlich durch Stand und Herkommen herausgehobenen Eliten freien Zugang zu den zeitgenössischen Bildungsangeboten einräumte, im Spätmittelalter zunehmend aufgeweicht wurde, blieben Bildung und Wissenserwerb dennoch ein durch viele gesellschaftliche Hürden nur schwer aufzubrechendes Privileg. Doch führten wirtschaftliche Innovation und Handel im ausgehenden Spätmittelalter dazu, dass Bildung schrittweise in breiteren Kreisen Einzug hielt.
So gab es auch in Erfurt neben der Universität und den zahlreichen Stifts- und Klosterschulen sogenannte Winkelschulen, an denen, institutionell angesiedelt an den zahlreichen Erfurter Pfarreien, Schreiben und Lesen gelehrt sowie mathematische Grundkenntnisse vermittelt wurden. Über die traditionsreichen Bibliotheken hinaus, über die die Universität sowie die zahlreichen Kollegiatstifter und Kloster verfügten, werden dort zudem kleine und kleinste, auch den Pfarrinsassen in einem beschränkten Rahmen zugängliche Büchersammlungen existiert haben.
Für Martin Luther ging das nicht weit genug. Der freie Zugang zu Bildung und Büchern war für Luther ein zentrales Anliegen der von ihm losgetretenen Reformation, aus dem er einen allgemeinen, heranwachsende Jungen und Mädchen aller Stände bzw. Gesellschaftsschichten gleichermaßen einbeziehenden Bildungsauftrag ableitete. Mithilfe einer die Kenntnis der alten Sprachen sowie des Deutschen fordernden humanistischen Schulbildung sollte es nicht nur jeden möglich sein, selbst die heilige Schrift lesen und verstehen zu können.
Zugleich verstand Luther eine gute Bildung auch als ein notwendiges erzieherisches Mittel, um den Einzelnen auf seinen künftigen Platz in der Gesellschaft adäquat vorzubereiten. In der Verantwortung sah Luther dabei die städtischen Amtsträger und Verwaltungen, die er in der Pflicht sah, das von ihm formulierte Bildungsprogramm umzusetzen. Darunter verstand Luther nicht nur, als Träger die institutionellen Voraussetzungen zu schaffen sowie Gebäude bereitzustellen. Insbesondere sollte die Kommunen mittel- und langfristig für eine ausreichende Finanzierung sorgen.
Programmatisch fasste Luther das in der seit Ende Februar 1524 als Flugschrift verbreiteten Ratsherrenschrift zusammen. Gerichtet an die Ratsherren aller deutschen Städte, ist sie ein mit Vehemenz vorgetragener Aufruf, weiterführende Schulen einzurichten, den Luther zugleich mit der Forderung verband, in den Kommunen öffentlich zugängliche Bibliotheken zu schaffen und dauerhaft zu unterhalten. Die breit rezipierte Schrift wurde im Erscheinungsjahr mehrfach nachgedruckt. In Erfurt selbst erschienen zwei Nachauflagen, was als ein Hinweis darauf zu verstehen ist, dass Luthers bildungspolitische Überlegungen auch in Erfurt auf ein großes Interesse stießen.
Luthers mahnenden Worte, mit denen er den städtischen Eliten seiner Zeit nicht nur ins Gewissen redete, sondern sie in die Pflicht nahm, entfaltete über Jahrhunderte hinweg eine für das Schul- und Bibliothekswesen im deutschen Sprachraum richtungsweisende Wirkung. Beschränkt blieb dieser Einfluss nicht nur auf unmittelbar dadurch initiierte Schul- und Bibliotheksgründungen. Vielmehr war und ist es der als Bildungsauftrag zu bezeichnende Grundgedanke, der den zeitübergreifenden Kern von Luthers Ratsherrenschrift ausmacht. Er bildete den Auftakt für einen heute alle Gesellschaftsschichten einschließenden freien Zugang zu schulischer Bildung sowie die niedrigschwellige Bereitstellung von Büchern in Form öffentlicher, allen Menschen zum freien und selbstbestimmten Wissenserwerb einladender Bibliotheken. Er hat, verbunden mit einer unmittelbar an die kommunalen Verantwortungsträger gerichteten Forderung, sich dieser Verpflichtung in ihrem Handeln immer bewusst zu sein, nicht an Aktualität verloren. Freie Bildung und frei zugängliche Bildungseinrichtungen stellen, wie es Johann Wolfgang von Goethe 1801 treffend mit Blick auf den Mehrwert von Bibliotheken zum Ausdruck brachte, ein unschätzbares Kapital dar, das unbemerkt unberechenbare Zinsen spendet.
Dem Erscheinen von Luthers Ratsherrenschrift ist eine Ausstellung im Erdgeschoss der Hauptbibliothek am Domplatz gewidmet. Zu sehen ist die Ausstellung im Rahmen der Öffnungszeiten. Die Vernissage findet am 3. April, ab 17 Uhr statt.
Zusätzlich lädt die Stadt- und Regionalbibliothek Erfurt am 16. April 2024 ab 19:00 Uhr zu einem Vortragsabend in die Hauptbibliothek am Domplatz ein. In der Veranstaltung werden die beiden Erfurter Universitätsprofessoren Kai Brodersen und Andreas Lindner, Luthers Ratsherrenschrift sowie Luthers vielschichtige Beziehungen zu Erfurt beleuchten. Zudem wird Frank-Joachim Stewing, Direktor der Stadt- und Regionalbibliothek Erfurt, einen Einblick in die Erfurter Bibliothekslandschaft in der beginnenden Frühneuzeit bieten. Die Veranstaltung ist kostenfrei. Um Anmeldung unter 0361 655-1590 oder per E-Mail an wird gebeten.
Leseempfehlung: Kai Brodersen, Luthers Aufruf zur Gründung von Schulen, an denen Alte Sprachen gelehrt werden (1524), Speyer 2023. Das Buch ist in der Stadt- und Regionalbibliothek Erfurt vorhanden.