Prof. Dr. Martin Mulsow, Direktor des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt, berichtet jetzt in der FAZ über den Fund:
Im März 1570 setzt ein deutscher Theologe in Heidelberg einen Brief an den Sultan von Konstantinopel auf. Er schreibt ihm, er halte den Islam für besser als das Christentum, und der Sultan – Selim II. – solle ruhig Europa erobern: Dann würden die Christen schon sehen, wohin sie mit ihrer Götzendienerei und ihrer Zwietracht gekommen sind. Adam Neuser, der Verfasser des Briefs, spielt mit dem Feuer. Er weiß, dass ihm eine Anklage wegen Hochverrats droht, sollte der Brief je in die Hände der Behörden fallen. Zu dieser Zeit hielten die Türken den gesamten Balkan, der Islam war eine stete Bedrohung für den Westen. Warum hat Neuser diesen verhängnisvollen Brief geschrieben?
Auch wenn er ihn nicht abgeschickt hat, so ist der Text doch bei einer Hausdurchsuchung an den Pfälzer Kurfürsten gekommen, Neuser wurde zum Tod verurteilt, konnte fliehen, versuchte sich nach Siebenbürgen durchzuschlagen, musste umkehren, wurde ergriffen und verhört. Er floh ein zweites Mal und landete schließlich als Gefangener – Ironie der Geschichte – tatsächlich im Osmanischen Reich. Er konvertierte zum Islam und kam dadurch frei. Warum also hat er den Brief geschrieben? Neuser war wütend. Er war in Heidelberg kaltgestellt worden, weil er der falschen Partei angehörte, zu denen, die die Züricher Variante des Reformiertentums bevorzugten und nicht die strenge Kirchenzucht nach Genfer Vorbild, die in Heidelberg durchgesetzt werden sollte. Er freundete sich mit antitrinitarischen Ideen an, also solchen, die das Dogma der Trinitätslehre ablehnten und Jesus nicht für einen Gott erachteten. Daher die Abscheu vor der „Götzendienerei” seiner Mitbürger. Irgendwann muss Neuser eine Koran-Ausgabe in die Hände gefallen sein, die ihn veranlasste, die Nähe zwischen Judentum, Christentum und Islam ausgehend von einem puren Monotheismus zu sehen.
Der Brief selbst ist ein Mysterium. Bislang kannte man lediglich eine deutsche Übersetzung, obwohl er ursprünglich auf Latein geschrieben war. Die deutsche Fassung wurde von Jakob Beyrlin in seinen „Antiquitates Palatinae” mitgeteilt, einem Text aus dem frühen 17. Jahrhundert, der aber erst 1701 gedruckt wurde. Nun ist es aber keineswegs gesichert, ob der Text wirklich authentisch ist. Das Original ist niemals gefunden worden. Lessing war der Erste, der daran zweifelte, dass der deutsche Text den ursprünglichen Worten Neusers entspricht. Nun ist der lateinische Text aufgetaucht – in der Forschungsbibliothek Gotha. Daniel Gehrt hat ihn bei Katalogisierungsarbeiten an einem Briefkonvolut von Stephan Gerlach gefunden, einem Gesandtschaftsprediger, den Neuser in Istanbul kennengelernt hatte.
Und es zeigt sich, dass die authentische, mit Neusers Hand geschriebene Gothaer Version nicht identisch ist mit der bisher bekannten deutschen Fassung. Zwei Fassungen des lateinischen Textes sind im Gothaer Konvolut unmittelbar hintereinander gebunden, beides Autografen. Sie unterscheiden sich nur unwesentlich. Prof. Dr. Martin Mulsow, Frühneuzeitforscher und Direktor des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt, hat sich mit dem Fund eingehend beschäftigt und kommt zu dem Schluss: Die lateinische Version ist nicht der Text, der in Neusers Haus konfisziert wurde und dann in die Hände des Kurfürsten gelangte. Dieser Originaltext ist möglicherweise für immer verschwunden. Nein, die Gothaer Version ist der Versuch Neusers, den Wortlaut seines Briefes aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Die beiden lateinischen Fassungen des Sultan-Briefes sind indes nicht die einzigen Blätter, die von Neuser im Gothaer Konvolut enthalten sind. Sie werden umrahmt von weiteren Blättern, auf denen Neuser zum einen Einzelheiten seines Verhörs in Heidelberg und der Argumente darstellt, die er damals vorgebracht hat, und zum anderen seine Gründe für die Ablehnung der Trinität anführt. So wie die Briefversion eine Nachschrift aus dem Gedächtnis ist, so hat Neuser auch das Verhör, dem er unterzogen wurde, aus dem Gedächtnis rekonstruiert.
„Der Fund zeigt, welche Schätze in den 10.000, noch kaum detailliert beschriebenen, Handschriften liegen können, die in Gotha aufbewahrt werden”, sagt Prof. Dr. Martin Mulsow über die Bedeutung des Fundes in Gotha. Die Forschung zum Antitrinitarismus des 16. Jahrhunderts im Allgemeinen und zu Neuser im Besonderen könne nun auf einer völlig neuen Basis erfolgen. Mulsow wird den Text editieren und den Fall Neuser in einem Buch zum Thema Islamisches Christentum ausführlich beschreiben. Der überraschende Fund zeige aber auch beispielhaft, wie Untergrundforschung in Gotha geleistet werden kann: Die verschiedenen Erschließungsprojekte fördern immer wieder neues Material zutage, das an das Forschungszentrum weitergegeben wird und dort in seiner Bedeutung erkannt, eingeordnet und kontextuell aufbereitet werden kann.