Und wo bitte ist hier das Welterbe?

Und wo bitte ist hier das Welterbe?

21. Juni 2024
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Wer zum ersten Mal das Steinerne Haus besichtigen möchte, steht vor zwei Problemen. Das erste: Er muss es finden. Das kleine Haus ohne eigenes Dach (das teilt es sich mit seinem Nachbarhaus) ist schnell zu übersehen. Problem Nummer zwei: Nur der Keller kann im Rahmen von Führungen besichtigt werden.

Und wer das Glück hat, das rund 775 Jahre alte Haus vom Keller bis zum Dachboden zu erkunden, muss schon viel Fantasie mitbringen, um die Bedeutung der Mauern zu begreifen. Notre-Dame in Paris, der Tower in London, das Taj Mahal in Indien – diese Welterbestätten kennt wohl jeder, sie sind ja auch um etliches populärer als ihre kleine Welterbeschwester in Erfurt. Doch das Steinerne Haus hat etwas, was sie nicht haben: Es ist nicht alleine. Es ist Teil eines ebenso alten jüdischen Quartiers mitten in Erfurt. Und es ist mit Alter Synagoge und Mikwe Teil der jüdischen Geschichte der Stadt.

Doch von vorne. Im Herbst 2023 entschied das Welterbekomitee, Erfurt mit seinem Jüdisch-Mittelalterlichen Erbe auf die UNESCO-Welterbeliste zu setzen. Alte Synagoge, Mikwe und das Steinerne Haus sind die drei Objekte, die gemeinsam auf der ehrwürdigen Liste stehen. Doch was macht das kleine unscheinbare Haus an der Rathausgasse, einen Steinwurf vom Benediktsplatz entfernt, eigentlich so einzigartig?

Spurensuche.
Das, was man vom Haus von außen sieht, ist eine teilweise verputzte Fassade, unsymmetrisch eingelassene quadratische Fenster, ein Dach aus roten Ziegeln, das sich das Haus mit seinem Nachbarn teilt. Erster Eindruck: Unspektakulär. Sieht aber alt aus. Wer eintreten will, muss erst ein großes hölzernes Tor am Benediktsplatz öffnen. Denn das Welterbe ist Teil eines Gebäudekomplexes, der seit mehr als 825
Jahren an dieser Stelle unweit der Gera steht. Es ist nicht ein Haus, es sind elf Häuser, die ineinander so verschachtelt sind, dass Unwissende sich hier garantiert verlaufen werden. Ein holpriger Weg verbindet den Eingang des Ensembles am Benediktsplatz mit dem Ausgang an der Stadtmünze, links und rechts davon die Eingänge in die verschiedenen Häuser, alle viele Hundert Jahre alt. Hier haben das Dezernat
für Kultur, Stadtentwicklung und Welterbe sowie die Kulturdirektion der Landeshauptstadt ihre Räume, hier findet sich die Erfurt Tourismus und Marketing GmbH (ETMG). Die Häuser ineinander wie verkeilt, immer wieder wurde um- und angebaut. Und ganz versteckt – das Steinerne Haus.

„Hier hatte sich die erste jüdische Gemeinde angesiedelt, das war der Ort, wo man sie haben wollte“, sagt Dr. Karin Sczech, Beauftragte für das UNESCO-Welterbe. Der Mainzer Erzbischof, damals Herrscher über Erfurt, hatte den Juden das Filetstück im Herzen der Stadt angeboten – nah der Handelsrouten. Sie waren geschickte Händler, verfügten über hervorragende Fernkontakte. Von ihrem Handel profitierte auch der Erzbischof …
Niemand weiß, wo die ersten Juden herkamen, wie viele Familien in dem kleinen Quartier lebten, womit genau sie ihren Lebensunterhalt verdienten. „Darüber haben wir keine Aufzeichnungen“, sagt Karin Sczech. Gesichert ist, dass der Keller für das Steinerne Haus um das Jahr 1200 mit Sandstein gemauert wurde – und um 1250 die Räume darüber. Wie das Haus vorher ausgesehen hat und ob es vielleicht ein Fachwerkbau war – niemand weiß es. Wer im Innenhof steht und in den 825 Jahre alten Keller will, kommt an einem unscheinbaren Fenster auf der gegenüberliegenden Mauer nicht vorbei, dass heute niemand als
Fenster erkennen würde. Es wurde aus einem Stein geschlagen, zwei schmale Öffnungen (knapp eine Elle hoch, eine Hand breit) dienten dem Lichteinfall – ohne Glas, das war unbezahlbar. Wer das Fenster sieht, kann erahnen, wie dunkel es in den Häusern gewesen sein musste.

Im knapp 40 Quadratmeter großen Keller tragen Gewölbe die Last der Deckenbalken. „Die wurden später eingebaut“, sagt Dr. Sczech. Strahler sorgen für warmes Licht und dunkle Schatten im Keller, der Boden wurde bei der Sanierung mit Kies bedeckt. An den Wänden hängen rund 100 unterschiedlich große Steinplatten, hebräische Schriftzeichen verraten Herkunft und Bedeutung – es sind Grabsteine vom mittelalterlichen Friedhof am Moritztor (heutige Große Ackerhofsgasse). Der Friedhof, der damals vor den Toren der Stadt lag, wurde Mitte des 15. Jahrhunderts eingeebnet und zunächst eine Scheune, dann der Kornhofspeicher darauf errichtet. Die Grabsteine wurden als Baumaterial (Stadtbefestigung, Gebäude, Straßen) verwendet und Jahrhunderte später wieder entdeckt. Ein Teil findet im Keller des Steinernen Hauses seine letzte Ruhe.

„Unser Ziel ist es, künftig die gesamte Baugeschichte des Hauses zu zeigen“, sagt Dr. Sczech. Dazu zählen der Keller, Erdgeschoss, erste Etage und schließlich das Dachgeschoss. Bis dahin ist viel zu tun: Im Erdgeschoss gibt es etwas weltweit Einmaliges – in den Räumen des Welterbes stehen zurzeit die Server der Verwaltung der ETMG und Mitarbeiter haben hier Büros. Arbeiten im Welterbe, das kann auch nicht jeder von sich behaupten. In einem Besprechungsraum im Nachbarhaus gibt es noch Reste vom einst reich bemalten Gewölbe.

Was sich vor mehr als 700 Jahren in den Räumen abspielte, kann wohl nie genau ergründet werden. „Zumindest zeitweilig diente das Erdgeschoss als Verkaufsgewölbe mit einem separaten Eingang zur Judengasse (heute Rathausgasse)“, sagt Dr. Sczech. Verkauft wurden hier wahrscheinlich Dinge aus den entlegensten Teilen der damaligen Welt. Seltene Gewürze, wertvolle Seidenstoffe. „Die jüdischen Händler konnten weit reisen, sie konnten die jüdischen Gemeinden überall auf der Welt als sichere Zwischenstationen nutzen“, sagt Dr. Karin Sczech. Wenn also im Erdgeschoss das Geschäft war, was
geschah dann eine Etage darüber? Um einen Eindruck davon zu bekommen, muss man durch die
Kulturdirektion, Abteilung Märkte und Stadtfeste. In einem unscheinbaren Flur mit leicht ausgetretenem
Parkett geht’s zu einer weißen Holztür, dahinter ist eine andere Welt – wie bei einer Zeitreise.

Faszination auf den zweiten Blick

Die Welt dahinter ist düster. Die beiden einzigen Fenster zur Rathausgasse sind mit einer Holzplatte abgedunkelt und selbst wenn man sie öffnet, ist es nicht gerade hell. Vor 775 Jahren waren es kleine Öffnungen, die wenig Licht herein- und dafür kaum Wärme hinausließen. Im Raum war es auch tagsüber dunkel, auch, weil die Häuser auf der anderen Straßenseite nur knapp drei Meter entfernt waren. Irgendwann wurde die linke Fensteröffnung zu einem Erker umgebaut – mehr Licht!

Wenn Strahler den Raum beleuchten, herrscht erst einmal Ernüchterung. Der Boden aus Beton, der Putz der Wände fehlt oder ist fleckig, es riecht nach altem Haus. Links, dort wo einst über eine Außentreppe die Eingangstür war, sind die nachträglich eingebauten Steine zu sehen. Die mächtigen Tannenbalken, die die Decke tragen, sind dunkel und rissig, die Dielen darüber heller, aber ebenfalls irgendwie dreckig.

Doch dann, auf den zweiten Blick, offenbart dieser Raum seinen Zauber, der ihn zu einem Welterbe machte. Rechts vom heutigen Eingang eine Lichtnische, in der ein Öl-Lämpchen hing, und das auch tagsüber für etwas Helligkeit sorgte. Immer noch zu sehen sind die Spuren, die das in den Jahrhunderten
heruntertropfende Öl auf dem Putz hinterließ. Balken und Dielen zeigen Einzigartiges – sie sind bemalt.
„Es ist die älteste profane Deckenmalerei nördlich der Alpen“, sagt Dr. Sczech. Während die Dielen mit Blumenmustern farbig gestaltet wurden, zieren bunte Ranken die mächtigen Balken. Bevor die Malerei
aufgebracht wurde, wurde das Holz mit schwarzer Rußfarbe gegen Schädlinge behandelt. Auf einer der Längswände ist der Putz abgebrochen, gibt den Urzustand frei: Damals hatten Handwerker in dem
frischen Mörtel zwischen den Steinen gerade Linien gezogen, damit es quadratischer und so ordentlicher
aussieht. „Der Erhaltungszustand des Hauses ist außergewöhnlich gut“, sagt Karin Sczech.

Privatsphäre gab es hier nicht

Doch wie sah das Leben im einzigen Geschoss aus? „Privatsphäre gab es nicht“, sagt Karin Sczech. Hier wurden Kunden empfangen, hier wurde gegessen, gearbeitet, gespielt, gestritten, geliebt und nachts gemeinsam im Bett gelegen. Ein Tisch, Stühle, Truhen für die Aufbewahrung – das war’s im Wesentlichen. Ein Außenkamin für die Wärme, wo die Küche war, ob vielleicht im Hof, weiß niemand genau. Dort, in einem Anbau oder kleinen Nebengebäuden, lebten möglicherweise auch die Bediensteten.

Je länger man sich in dem Raum aufhält, die einzigartige, uralte Lichtnische betrachtet, die durchaus naiven Malereien an der Decke, den bearbeiteten Mörtel, die winzigen Fenster und die wuchtigen Deckenbalken, desto mehr taucht man ein in eine Welt vor unserer Zeit. Plötzlich kann man sich vorstellen, wie im Keller Ware gelagert, im Erdgeschoss gehandelt wurde. Wie über den Köpfen der Händler und Kunden sich eine Familie einen Raum teilte, wie das Leben pulsierte. Wie sich dort oben Kinder die Bemalungen ansahen und Fremde sie bestaunten.

Und dann wird klar, warum das Steinerne Haus Welterbe wurde. Weil es eben nicht alleine ist. Hier wurde gelebt, in der Alten Synagoge wurde gebetet, in der Mikwe haben sich die Menschen rituell gereinigt. Das Ganze ist Zeugnis des jüdischen Lebens vor Hunderten von Jahren in Erfurt – das alles in seiner Gesamtheit zu sichern und erleb- und verstehbar zu machen, muss die Aufgabe sein. Und das kleine Haus aus Stein? Das kann den Besuchern ganz viel erzählen – man muss nur genau zuhören.


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