Der Gebäudekomplex Turniergasse 17, der ab 1939 und bis vor wenigen Jahren vom städtischen Gesundheitsamt genutzt wurde, wird derzeit saniert und zu Wohnungen umgenutzt. In einem großen vermauerten Hohlraum machten Bauarbeiter eine Entdeckung, die sie sofort die Arbeit einstellen ließ. Der zugemauerte Raum in einem Zwischengeschoß war voller Aktenordner.
Die vom Architekten und Bauleiter an den Fundort gerufenen Geschichtsexpertinnen, die Direktorin des Stadtarchives Dr. Antje Bauer und die Kuratorin des Erinnerungsortes Topf & Söhne PD Dr. Annegret Schüle, stellten fest, dass es sich um Akten des Gesundheitsamtes überwiegend aus der Zeit vor 1945 handelte. Sie konnten auch herausfinden, dass die Akten in den 1950er Jahren in dem Hohlraum versteckt worden sein müssen und damit über 60 Jahre unentdeckt geblieben sind. Es handelt sich um den größten Aktenfund aus dem historischen Bestand des Gesundheitsamtes, der bislang im alten Gemäuer Turniergasse gemacht worden ist.
Stichproben haben gezeigt, dass auch Akten der Abteilung für „Erb- und Rassenpflege“ unter den staubbedeckten Unterlagen sind. Diese Abteilungen wurden um die Jahreswende 1933/34 in allen städtischen Gesundheitsämtern eingerichtet, um personenbezogene Daten zu sammeln. Datenschutz und Privatsphäre wurden dabei nicht nur vernachlässigt, sondern gezielt verletzt. Diese Daten benötigte die NS-Regierung für ihr Ziel „den Volkskörper zu reinigen und die krankhaften Erbanlagen allmählich auszumerzen.“ Ab 1934 waren Zwangssterilisationen „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ möglich. Ab 1935 benötigten Heiratswillige ein „Ehetauglichkeitszeugnis“ des Gesundheitsamtes. Die nationalsozialistische „Erb- und Rassenpflege“ führte schließlich zum Massenmord an Kranken und Menschen mit Behinderung in der „Euthanasie“-Aktion.
Schon aus Gründen des Datenschutzes wurden die Akten mit engagierter Unterstützung des Bauherrn unverzüglich in das Stadtarchiv gebracht, wo sie nun auf ihren historischen Wert hin überprüft und archivarisch erschlossen werden. Danach stehen sie für die Forschung bereit. Schon die Stichproben haben gezeigt, dass neue historische Erkenntnisse zum Handeln der Stadtverwaltung und zum Leidensweg von Erfurter Bürgern, die Opfer des nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungsprogramms wurden, zu erwarten sind.
Alle Fotos: Stadtverwaltung Erfurt