Können religiöse Erfahrungen körperlich spürbar sein? Wenn im Gottesdienst der Klang der Orgel ans Ohr und der Duft von Weihrauch in die Nase steigt, wenn auf Pilgerreisen jeder Schritt den Wandernden Gott näherbringt und wenn in rituellen Tänzen spirituelle Gemeinschaft zum Ausdruck kommt, dann stellt sich die Frage, ob all dies in einem Studium der Religion, das überwiegend mit schriftlichen Überlieferungen arbeitet, nicht vielleicht zu kurz kommt? Dieses Themas nimmt sich die Religionswissenschaft derzeit unter den Stichworten „material religion“ und Religionsästhetik („aesthetics of religion“) an. „WortMelder“ hat bei Dr. Isabella Schwaderer, Mitarbeiterin an der Professur für Allgemeine Religionswissenschaft, nachgefragt: Inwieweit kann Religion ein sinnliches Phänomen sein? Und wie kann die Forschung diese körperlichen Dimensionen einfangen?
„Die Überlegung, ob und inwieweit Tanz ’nur‘ als Kulturtechnik oder auch als religiöse Praxis gefasst werden kann, führte Katharina Waldner, Professorin für Allgemeine Religionswissenschaft an der Uni Erfurt, und mich zu einer wesentlich breiter angelegten Fragestellung nach rituellen Aspekten – und schließlich auch zur ästhetischen, sinnlich erfahrbaren Dimension von Religion in kollektiven Praktiken. Wenn wir religiöse Handlungen als symbolisch kodierte Körperpraktiken begreifen, verstärken sich diese gerade in gemeinschaftlichen Akten. Ob dies das gemeinsame Verzehren von bestimmten Speisen betrifft oder besondere musikalisch-akustische Effekte innerhalb der Struktur eines Gottesdienstes, immer dienen diese der Kohäsion und der Selbstvergewisserung der Gruppe in einer Anbindung an ein höheres Prinzip.
Der Zugang zu Religion als einem sinnlichen Phänomen hebt Aspekte hervor, die unseres Erachtens in der noch immer vorherrschenden Konzentration auf schriftliche Überlieferungen und individuelle Gottes- oder Transzendenzerfahrungen zu kurz kommen. Zwar sind ästhetische Eindrücke flüchtig und ephemer, ihr Effekt jedoch darum nicht weniger intensiv. Als sinnliches Phänomen betrachtet wird Religion in ihrer materiellen, ereignishaften, körperlichen und pluralisierten Dimension sichtbar. Hier setzt auch die aktuelle Diskussion um Emotionen und ‚embodiment‘ in den Religionen ein.
Wenn auch religiöse Erfahrung ein überzeitliches und transkulturelles Phänomen ist, erhält die Debatte darüber in modernekritischen Diskursen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch einmal eine besondere Bedeutung. Wurde die Geschichte der Moderne als eine ‚Verlustgeschichte‘ verstanden, lag es nahe, anderswo nach den ‚verlorenen Ursprüngen‘ zu suchen, die meist in einem romantisch verklärten ‚Anderswo‘ vermutet wurden. An dieser Diskussion beteiligte sich maßgeblich auch eine damals in Deutschland noch junge Religionswissenschaft mit ihren Überlegungen zu kulturübergreifenden mystischen Erfahrungen und ihrer ‚Entdeckung‘ Indiens als eines neuen ‚geistigen‘ Kontinents.
Aus dieser wechselseitigen Beziehung deutscher und südasiatischer Verflechtungen entstanden zahlreiche neue Wissensgebiete etwa um kultische Tänze und den Yoga. Heute konzentriert sich die Forschung eher auf die Frage, inwiefern sich gemeinschaftsbildende, sinnlich wahrnehmbare Prozesse auf alternative Sphären von Kunst, Politik oder Sport verlagern. Uns lag daran, die Übergangsprozesse, die noch lange nicht abgeschlossen sind, sichtbar zu machen.
Insgesamt möchten wir aber hervorheben, dass religiöse Erfahrung mehr umfasst als individuelle, geistige Transzendenzerfahrung. Sie erstreckt sich auch auf die sinnliche Ebene des Körpers und agiert in gesellschaftlichen Prozessen.“
Mit ästhetischen Erfahrungen in kollektiven religiösen Praktiken beschäftigt sich auch eine Neuerscheinung, die kürzlich gemeinsam von Dr. Isabel Schwaderer und Prof. Dr. Katharina Waldner herausgegeben wurde. Der Sammelband unter dem Titel ‚Annäherungen an das Unaussprechliche‘ ist im Transcript Verlag erschienen. Mehr dazu unter: https://aktuell.uni-erfurt.de/2020/01/15/neue-publikation-annaeherungen-an-das-unaussprechliche/
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